Die Rolle des Hasen in Mythen und Kunst:
Eine kulturgeschichtliche Betrachtung eines Jägers und Keramiksammlers
Von René E. Felber
Die Geschichte des Hasen - sie reicht in graue Vorzeit zurück. Wahrscheinlich gehörte ein Hasenpaar schon zu den Gästen der Arche Noah. Der «1epus» hat seit jeher zu den jagd- und essbaren Wildarten gehört, hat zum Überleben der frühesten Menschen beigetragen und später die Kochzettel aller Völker bereichert bis in unsere Tage. Schon in den ältesten Schichten Trojas, die in das 3. Jahrtausend v. Chr. zu datieren sind (frühe Bronzezeit), wurden Hasenknochen in Mahlzeitenresten nachgewiesen. Später gehörte der Hasenbraten zu den Festmählern der Griechen, und im Kochbuch des Römers Marcus Gavius Apicius sind eine ganze Reihe von Rezepten für gebratenen Hasen, gefüllten Hasen, Hase im eigenen Saft, samt zugehörigen delikaten Saucen, verzeichnet.
Dass nicht nur das Essen, sondern auch das Jagen der Tiere schon sehr früh zu einer Passion voller Raffinesse geworden war, können wir an verschiedenen bildlichen Darstellungen und späteren schriftlichen Zeugnissen ablesen. Seit der Mensch sich in der jüngeren Steinzeit zum nomadisierenden Haustierhalter und etwas später zum Ackerbauern entwickelt hatte, waren die Risiken und steten Ungewissheiten der Jagd überwunden; die Existenz war nicht mehr ausschliesslich von diesem Ernährungsfaktor abhängig. Damit wurde die Jagd zum Privileg jener, die innerhalb der Gesellschaft dazu berechtigt waren und es sich leisten konnten.
HASENJAGD
Schon im 2. Jahrtausend v. Chr. finden wir die Hasenjagd mit dem Adler als Beizvogel in Zentralanatolien. Greifvögel waren auch bei den Hethitern und im alten Persien in Mode. Andernorts wurde zu Pferd gejagt, und die Griechen erlegten dieses Wild zu Fuss mit Hilfe von Windhunden. Im «Cynegeticus» des in Kleinasien geborenen Römers Flavius Arrian wird über das Jagdwesen der Kelten im 2. Jahrhundert n. Chr. berichtet. Die Schilderung der Hasenhetze gibt anschaulich Auskunft über die damaligen Gepflogenheiten. Zum Aufstöbern der Hasen wurden Pferde verwendet, dann wurden die Hunde eingesetzt. Die Jagd diente in erster Linie dem Vergnügen, das sich bot, wenn ein aufgestöberter Hase von den Hunden gehetzt wurde.
War der Hase den Hunden überlegen, so riefen die Jäger diese ab und schenkten dem tapferen Hasen das Leben: «Es führen nämlich die echten Jäger wenigstens die Hunde auf die Jagd nicht zum Fange des Wildes, sondern zum Kampf und Wetteifer im Lauf und sind zufrieden, wenn der Hase das Versteck glücklich erreicht. Und wenn sie den zuweilen in dünnes Dornengebüsch sich Flüchtenden auch angstvoll und ermattet sehen, so rufen sie die Hunde ab, zumal wenn er den Kampf gut bestanden hat.» Was für ein Sportsgeist! Dem siegreichen Kampf des Hasen begegnen wir später in den volkstümlichen Bilderbogen, wo der Jäger mit List übertölpelt wird.
Diese Schilderungen sind jedoch ein seit dem Altertum als «verkehrte Welt» bekanntes Motiv der Lügendichtung, das uns heute noch im «Struwwelpeter» begegnet.
Der Hase als Symbol
All diese nur angedeuteten Fakten über die Entwicklung der Hasenjagd von der notwendigen Nahrungsbeschaffung zum sportlich betriebenen Jagdvergnügen beleuchten aber die Stellung des Hasen in der menschlichen Kultur nur unvollkommen. Der Trieb des Menschen, seinen Lebensraum mit einem Netz von mystisch, religiös oder psychologisch empfundenen Bezügen zu umgrenzen, hat auch vor unserem Hasen nicht haltgemacht. Seine Artmerkmale sind so ausgeprägt, dass es nicht schwer fiel, ihn mit mancherlei göttlichen und menschlichen Prinzipien zu assoziieren. So wurde er zum Symbolträger, wobei einmal die negativen, ein andermal die positiven Aspekte zum Tragen kommen.
Die stete Fluchtbereitschaft wird als Angst und Feigheit gedeutet; wir finden das noch in unserem Sprachgebrauch («Hasenfuss» und «Hasenherz»). Andererseits kann die Wachsamkeit vor der Gefahr auch zur Tugend werden. Im christlichen Abendland wurde mit der Gestalt des Hasen deshalb die Abkehr vom Bösen symbolisiert, die Unschuld, die sich durch Flucht der Versuchung entzieht, denn - wie die Kirche wohl wusste - die menschliche Seele würde diese Gefahren nicht unbeschadet überstehen.
Die erstaunliche Fruchtbarkeit des Hasen wurde ebenso kontradiktorisch ausgelegt. Positiv gesehen, wird der Hase im alten Griechenland der Liebesgöttin Aphrodite sowie der Jagdgöttin Artemis zugeordnet. Diese Doppelposition ist zum Beispiel in den auf attischen Vasen dargestellten Szenen zu beachten, wo als Männergeschenke an Knaben auch Hasen figurieren. Solche Liebeswerbung hatte gleichzeitig pädagogische Funktion: Der Hase ist hier nicht als Streicheltier zu verstehen, sondern soll dem jungen Epheben zur Hasenhatz dienen und ihm so spielerisch Jagd und Jagdlust als positiven männlichen Wert vermitteln.
![]() Etruskische Bauchamphore, Ton, frühes 6. Jahrhundert v. Chr. |
Für Menschen ansteckend: "Die Geylheyt |
Anders scheinen die Dinge im alten Rom zu liegen, wo «lepus» als Kosenamen Verwendung fand.
In christlicher Zeit wandelte sich der Blickwinkel. Der Hase stand nicht mehr hoch im Ansehen. Papst Zacharias verbot 752 sogar den Genuss dieses Wildbrets für die Christenheit aus ernsthafter Besorgnis, «die Geylheyt vom Hasen» könnte auf die Menschen ansteckend wirken.
Es kommt aber noch schlimmer; gemäss mittelalterlichem Denken sollen Hexen oft Hasengestalt annehmen. Die Verwandlung wird mit Hilfe von eingesalbtem Hasenfett vollzogen. Auch hier steht das Bild des Hasen für verwerfliches, orgiastisches Verhalten. Der Jäger erkennt den Hexenhasen an seiner besonderen Grösse, seinem dicken Kopf und seinem eigenartigen Benehmen: er steht meistens auf den Hinterläufen, kann sprechen und foppt den Jäger und andere Leute. Es ist nicht leicht, einer solchen «Hasenfrau» beizukommen. Schon mancher Jäger musste erleben, wie sich das Tier in dem Augenblick, da er sein Gewehr in Anschlag brachte, plötzlich in eine Frau zurückverwandelte. Auch konnte die Hexe den Schuss bannen oder liess das Gewehr versagen oder konnte sogar die Kugel auf den Schützen zurückfliegen lassen.
Die Sage schrieb dem Abt von Einsiedeln, der auch die Aufsicht über das Kloster Fahr aus-übte, einige Erfahrung in diesem Geschäft zu. Als er eines Tages dort bei Tisch sass - so lesen wir in der Zürcher Sagensammlung von Glättli - erzählte ihm der Klosterbeichtvater von einem Hasen, der allen Jägern der Umgegend in den Schuss laufe und gleichwohl nie habe getroffen werden können. Der Abt entschloss sich zu einem Jagdgang. Als gelehrter Mann lud er jedoch die Flinte mit etwas Gesegnetem. Auch trug er Osterkohlen vom Osterfeuer, am Karsamstag am Kirchhof angezündet, im Flintenkolben mit sich, so dass ihm die Begegnung mit der «Hasenfrau» keinen Schaden tun konnte. Draussen am Stand erschien in der Tat ein übergrosser Hase, der ihn neckte und hänselte. Ein Schuss, und er lag tot. Als die Jagdgesellschaft heimkam, herrschte im ersten Haus beim Kloster Lärm. In dem Augenblick, da der Schuss fiel, war hier eine Frau tot umgesunken, die bei den Leuten die «Hasenfrau» geheissen hatte.
Noch eine andere Eigenschaft wird dem Hasen zugeschrieben. Plinius der Ältere, der 79 n. Chr. beim Ausbruch des Vesuvs in Pompeji ums Leben kam, attestiert dem Hasen in seiner «maturalis historia», dass er mit offenen Augen schlafe. Dieser Beobachtung liegt die Tatsache zugrunde, dass der Hase sich bei Gefahr niederduckt, sich still verhält und scharf beobachtet; dies wurde als «schlafen» gedeutet.
![]() Bodenfliese mit Hasenmotiv in Grün und Manganviolett: Girona, Spanien, 13. Jahrhundert. Diese Kunst in Keramik lässt das Erbe der islamischen Töpfertradition erkennen. |
In vorchristlicher Zeit stand der Hase in Zusammenhang mit dem Lichtmythos, wohl gerade weil er im Rufe stand, seine Augen auch im Schlaf nicht zu schliessen. Flüchtig wie das Licht ist auch die behende Beweglichkeit des springenden Tieres.
Diese Vorstellungen haben sich in unserer Volkskunst mit ihren Tierdarstellungen erhalten, wie auch ganz allgemein die «maturalis historia» im Mittelalter grossen Einfluss hatte.
Mit diesen Ausführungen ist das breite Spektrum der Bedeutungen, die unserem Hasen im Laufe der Jahrtausende untergeschoben wurden, beileibe noch nicht ausgeschöpft. Uns muss es genügen, mit dieser Darstellung auf die absolut «schillernde Persönlichkeit» in unserer Fauna aufmerksam zu machen.