Universitätsprof. Dr. Gerd Rohmann:

Goethe und die Jagd

Zum Wechselverhältnis von Jagd als emotionsgeleitetem Antrieb und der kulturevolutiven Jagdform des Denkens am Beispiel des Dichterfürsten

  Wir wollen einen Jäger fragen, die kennen
den ganzen Wald, und alle Früchte wissen sie zu
säen, zu pflanzen und zu warten, [...] - die Jäger
wissen alles; gestern zeigte mir der Bote, wie ein
Hirsch über den Weg gegangen sei, er rief mich
zurück und ließ mich die Fährte bemerken, wie er es
nannte; ich war darüber weggesprungen, nun aber
sah ich deutlich ein paar Klauen eingedrückt; es mag
ein großer Hirsch gewesen sein.

(Wilhelm Meisters Wanderjahre)

Unsere Unwissenheit über die Rolle der Jagd in Goethes Leben und Werken ist begründet, denn ihre enorme Bedeutung für die Reifung seiner Persönlichkeit und die Wirkung seiner vielen jagdlichen Erfahrungen auf sein universales Denken werden gemeinhin unterschlagen.
So wird das Waidwerk in dem fünfseitigen Goethe-Artikel in Band 8 der 24-bändigen Brockhaus Enzyklopädie mit keinem Wort erwähnt. Auch Eckermanns Gespräche mit Goethe, 2 Bde (ab 1823), eine Dichterbiographie von Weltrang, geben wenig Auskunft.
Hans-Heinrich Reuters 1990 in der 3. Auflage beim VEB Bibliographisches Institut Leipzig erschienene Biographie Johann Wolfgang Goethe erwähnt die Jagd in Goethes Leben ebenfalls mit keinem Wort und spricht dem Staatsmann sogar seinen 1802 verliehenen Adelstitel ab. Und das, obwohl DDR-Staatsratsvorsitzender Honecker jagte wie ein barocker absoluter Herrscher über seinen Arbeiter- und Bauernstaat.
Curt Hohoffs Johann Wolfgang von Goethe: Dichtung und Leben (München,: Heyne, 1999) gibt endlich Auskunft:

„Mit den für ihn wichtigsten Gestalten, Frau von Stein und dem Herzog
Carl August von Weimar, war er ständig zusammen. [ ...] Immerhin gibt
es das jetzt einsetzende Tagebuch; seine Stichworte sind aber für den
privaten Gebrauch bestimmt, mit schwer verständlichen Zeichen
verschlüsselt. [...] Immerhin erfährt man aus den Stichworten, daß
Goethe auf die Jagd ging. (227. )
Reiten, Jagen, Trinken, Tanzen, Feste feiern, im Wald übernachten,
Baden, mit den Dorfmädchen schäkern und mehr - das war der Herzog.
Zum ersten Mal in seinem Leben lernte Goethe eine Sturm-und-Drang-
Natur kennen, die nicht literarisch überspannt war, sondern vom
Temperament her heißblütig, willensstark und intelligent, ein Tatmensch.
(228).
Der junge Herzog war ein Naturbursche und verließ sich auf die von
seiner Mutter mit sicherem Blick ausgewählten Ratgeber. (229).“

Und diese waren die Prinzenerzieher Graf Görtz für den Knaben, Wieland für den Schüler und Goethe für den jungen regierenden Herzog.
Es gibt Jagdgegner, die Goethe Schmeichelei unterstellen. Charlotte von Steins Kritik an den wilden Hetzjagden begründete den falschen Verdacht, Goethe habe sich als Höfling dem jungen Herzog anbiedern müssen und sich deshalb gezwungen gesehen, wenn auch widerwillig, mit auf die Jagd zu gehen. Dies ist das Urteil einer schönen Seele im Zeitalter der Empfindsamkeit über Hetzjagden, die heute verboten sind.

Die Einstellung des frühen Goethe zur Jagd ist absolut nicht empfindsam-romantisch, sondern barock und aufklärerisch-absolutistisch, so hart wie er sie Wilhelm Meisters Sohn noch in der Endfassung der Wanderjahre (1820- 29) in den Mund legt:

„Ich aber will ein Jäger werden. Es ist gar zu schön, den ganzen Tag im
Walde zu sein und die Vögel zu hören, zu wissen wie sie heißen, wo ihre
Nester sind, wie man die Eier aushebt oder die Jungen, wie man sie
futtert und wenn man die Alten fängt, das ist gar zu lustig.“

Ohne seine jagdliche vita activa und contemplativa, ohne kulturevolutiven, jagderfahrenen Kognitivismus, wäre Goethe nicht das Universalgenie der Deutschen Klassik geworden, sondern hätte sich mit dem Weltanschauungshorizont einer Seidenraupe an einem mitteldeutschen Provinzfürstenhof eingesponnen.

 
Goethes jagdliche vita activa

Vor seiner Ankunft in Weimar am 7. November 1775 hatte Goethe in Frankfurt l/4 Pfund Schrot und l/4 Pulver gekauft. Seine Flinte brachte er mit, denn schon 1773 hatte er seinem Freund Kestner nach Wetzlar vermeldet, wie sehr er "das Schießpulver ehre", "dessen Gewalt" ihm "einen Vogel aus der Lufft herunter" holte. (Loch,49)
Durch die Jagd fand Goethe als Bürgerlicher sofort Anschluß an die sehr geschlossene Weimarer Hofgesellschaft. 1789 - 92 wohnte er im Jägerhaus, in das 1816 die Zeichenschule aus dem Fürstenhaus verlegt wurde. Goethe nahm vor seiner ersten Italienischen Reise an fast allen gefährlichen Parforcejagden des Herzogs auf Hirsch und Keiler teil. Waren Sauen fest, so trieb man sie in Netze, wo sie abgefangen oder gefesselt wurden. Goethe berichtet in seinem Tagebuch vom 14. Januar 1778: "kamen die Schweine von Eisenach", die dort eingefangen worden waren und anderntags auf der Reitbahn bejagt werden sollten.

Geschossen wurde nicht, um das Publikum und die Hunde nicht zu gefährden. Goethe ging mit einer Saufeder auf einen starken Keiler zu, der ihn sofort annahm:

„Der Stich mit dem Kalten Eisen zwischen den Hals und das Blatt zielte
nach der Herzkammer. Gelingt ein solcher, so sinkt das Schwein zwar
zusammen, schiebt aber, wenn es ein sehr starkes Schwein ist - [...] den
Jäger durch den heftigen Anlauf um mehrere Schritte zurück. Dieser muß
mittels des mit beiden Händen gehaltenen Fangeisenstiels genau die
Balance halten, damit er nicht "über den Haufen geworfen" wird.
[Goethe notierte am 16. Januar] "früh Hazze in der Reitbahn mir brach
ein Eisen in einem angehenden Schweine, unter der Feder weg."
Dabei ist zu beachten, dass ein solch riskantes Unternehmen - das es nun
einmal ist - nur von einem unerschrockenen, kräftigen und erfahrenen
Mann gewagt werden kann. Denn schon viele Jäger wurden bei
leichtsinnigen Stößen durch die Waffen des Keilers "böse" in Arme und
Beine geschlagen und sind dadurch zu Invaliden geworden, wie auch am
16. Januar 1778 in der Weimarer Reitbahn geschehen, als einer von
Witzlebens Jägern vom Keiler geschlagen wurde.“ (Loch, 83-84.)

Goethe liebte das Hasenhetzen mit Windhunden.

„Der Jäger musste ein gewandter und schneller Reiter sein und den
Hunden dicht folgen, damit jene, wenn sie den Hasen gefangen hatten,
nicht zum Fressen kamen oder den Hasen zerrissen.“ (Loch, 37.)

Kesseltreiben und Entenfang wurden ebenfalls von Goethe praktiziert. In der Männerfreundschaft mit dem Herzog steht die vita activa der wilden Reitjagden auf Hirsche und das Stellen der Sauen im Vordergrund. Das Thüringer Ministerium für Landwirtschaft, Naturschutz und Umwelt hat kürzlich die Forschung von Denis Loch, Die Jagd in Goethes Leben (Gehren: Escher, 2002) gefördert, eine detaillierte Text- und Bilddokumentation. Ein fachkundiger Artikel in der Jagdzeitschrift Wild und Hund (März, 2005) basiert auf dem Ihnen an die Hand gegebenen Taschenbuch und illustriert die große Popularität Goethes als Jäger einem mit 50-Pfennig-Notgeldschein aus der Weimarer Republik (1921). Die Vorderseite titelt "Brausejahre in Stützerbach, Goethe und Karl August auf der Jagd."
Goethe mit Flinte in der rechten Hand und Falke auf der linken Faust. Karl August mit Flinte links und Horn rechts. Motto: "Den Wald und Forst zu hegen, das Wildbret zu erlegen, das ist's, was mir gefällt." Die Rückseite zeigt ein Nachtlager im Finsteren Loch bei Gabelbach, Motto: "Wo bin ich ist's ein Zaubermärchenland: Welch nächtliches Gelag am Fuß der Felsenwand?" Auf der gemeinsamen Schweizer Gebirgsfahrt widmet Goethe seinem Jagdherrn nach einigen Bemerkungen ein Gedicht
[...] wir waren oft sehr nahe am Halsbrechen. Auf Parforcepferden über Hecken, Gräben und durch Flüsse, und bergauf bergein sich tagelang abarbeiten, und dann Nachts unter freiem Himmel kampieren, etwa bei einem Feuer im Walde: das war nach seinem Sinne. Ein Herzogthum geerbt zu haben, war ihm nichts, aber hätte er sich eins erringen, erjagen und erstürmen können, das wäre ihm etwas gewesen. Es klingt der berühmte Aphorismus an: "Was Du ererbt von Deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen."
Im Briefwechsel Schillers und Goethes finden sich Pläne zu nie ausgeführten Balladen. Nach Hermann und Dorothea wollte Goethe ein Erzählergedicht mit dem Titel „Die Jagd“ schreiben. Aus diesem Gedicht hat er in Gegenwart Jean Pauls vorgetragen, es ist aber nie zu Papier gebracht worden (Hohoff, 405). Die heute verbotenen Hetz- und Massenfangjagden sah Goethe schon damals kritisch und verschrieb sich immer mehr den heute üblichen Ansitz- und Pirschjagden als Formen der Einzeljagd.

„Um Tigern gleich zu morden
in Wäldern weit und breit
Hab' ich Dianens Orden
Mich warlich! nicht geweiht!
Nein - einem edlem Triebe
Dank' ich mein grün Gewand;
Nur dir, N a t u r, zu Liebe
Wählt' ich den Jägerstand“
(von Wildungen)

Die wilden Zeiten waren vorbei. Spätestens nach der Französischen Revolution von 1789 beginnt die vita contemplativa des Zeichners, Naturforschers und Dichters Goethe. Sein Denken ist aber ungebrochen von der Geistesgegenwart, Reaktionsschnelligkeit, Entscheidungsfreudigkeit und universalen Lebenserfahrung der Jagd bestimmt. Goethe ist Natur, weil er alles erfahren hat, von seinen 34.000 km Wanderungen, Ritten und Postkutschenfahrten bis zur universalen Lebenserfahrung. Lebenslang schätzte er das "Pirschen aufm Gabelbach" (Loch, 41-42), die Beizjagd auf Flugwild, die auch von Damen ausgeführt wurde, und die Hüttenjagd mit dem Uhu, von der auch sein Sohn August angetan war.

Die Bauern litten besonders unter den zur Plage gewordenen Wildschweinen.
Goethe schrieb deshalb an den Herzog:

[...] diese Erbfeinde der Cultur ohne Jagdgeräusch, in der Stille nach und nach der Tafel" aufzuopfern.

Die letzte eingestellte Haupt- und Prunkjagd im Weimarischen Land hielt man zu Ehren des zum Erfurter Fürstentag anwesenden Kaisers Napoleon und des Zaren Alexander I von Rußland sowie fast sämtlicher deutscher Fürsten am 8. Oktober 1808 auf dem Ettersberg ab. Die Strecke dieser Jagd umfaßte: ,,47 Hirsche, 5 Rehböcke, 3 Hasen, 1 Fuchs" (Loch, 24.) Auffallend ist die geringe Trophäenstärke (Zehner, Achter, Sechser und Spießer) der viel zu jungen Hirsche, das Ergebnis zu häufigen Jagens und eines wahllosen Abschusses. Goethe hat an dieser Jagd nicht mehr teilgenommen.
Seine Werke sind ohne das ganzheitliche Naturerleben durch die Jagderfahrung aber so nicht denkbar.

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