Dipl-Ing. Herbert Rosenstingl:

Zur Frage der Existenz einer Wissenschaft von der Jagd
Kennt der Jagdwissenschaftler das Objekt seiner Forschung?

Redaktionelle Anmerkung:
In einer Zeit, in der die meisten Vertreter jedweder akademischer Disziplin am liebsten unter dem Anspruch von Wissenschaft auftreten, ohne ihm je genügen zu können, ist es verdienstvoll das Augenmerk auf eine wohl am meisten kuriose Wissenschaft zu richten, deren Akteure ihr Tätigkeitsfeld kurzerhand Jagdwissenschaft nennen. In allen Forschungsbereichen und auf allen Wissenschaftsgebieten weiß der Wissenschaftler, worum es sich bei dem Objekt seiner Wissenschaft handelt, das demgemäß ihr den Namen verleiht. Der Titel Jagdwissenschaft erweckt den Eindruck, daß es ein wiss. Paradigma Jagd gibt. Genau das aber ist nicht der Fall! Bei der Jahrestagung des FLJ in Weimar stellt der Referent Herbert Rosenstingl deshalb die oben im Titel verlautbarte Kernfrage aller Wissenschaft: Kennt der Wissenschaftler das Objekt seiner Forschung? Ist die Frage zu verneinen, dann handelt es sich bei dem „Wissenschaftler“ solcher Provenienz offenbar um eine traurige Gestalt, die akademisch der Lächerlichkeit preisgegeben ist. Rosenstingl kapriziert seinen Beitrag zunächst auf wissenschaftstheoretische Rahmenbedingungen. Er nimmt z. B. Rekurs auf die Karl Poppersche Wissenschaftstheorie mit einem Ansatz, den wir unter dem Prinzip der Falsifizierung von Theorien kennen. Nach Popper et al ist eine Theorie dann falsifiziert, wenn sie durch eine neue Theorie mit konsistenteren Hypothesen und Explananda ersetzt wird. Und nicht etwa bereits dann, wenn Teilsätze falsifiziert sind! Wissenschaft senso stricto ist also das, was innerhalb eines Theorienrahmens nach Möglichkeit empirisch dargeboten und belegt wird. Dies mag zu den umfangreichen Vorüberlegungen von Rosenstingl zum Nutzen der weiteren Abhandlungen seines Referats anzumerken genügen.

 
Viele Autoren haben sich mehr oder weniger mit diesem Begriff (red. Anm.: Der Verfasser meint den Begriff Jagdwissenschaft) und dem dahinter sich verbergenden Wissen beschäftigt, alle aufzuzählen bedürfte sehr eingehender Literaturrecherchen, ich begnüge mich mit der Erwähnung einiger weniger, wie Johann Täntzer, Hanns Friedrich von Flemming" Heinrich Wilhelm Döbel" Johann Mathäus Bechstein, Stephan Behlen - herauf bis Prof. F Nüßlein, der in der Erstausgabe seiner von ihm 1955 gegründeten "Zeitschrift für Jagdwissenschaft" seine Definition der Jagdwissenschaft niederschreibt:
"Jagdwissenschaft ist die Wissenschaft von der Jagdwirtschaft, d. h. also die methodische Erforschung aller die Jagd betreffenden Dinge, bei denen eine gewisse Gesetzmäßigkeit zu vermuten ist. Jagdwissenschaft ist also nicht etwa nur die Wissenschaft von den jagdbaren Tieren, sondern von einer wirtschaftlichen Tätigkeit samt ihren Voraussetzungen und Problemen, Jagdwirtschaft kann man als diejenige Tätigkeit bezeichnen, die sich mit der Erhaltung, Ordnung und Nutzung der Wildbestände befaßt.
... Für die Jagdkunde ist Voraussetzung, erst einmal die natur- und geisteswissenschaftlichen Grundlagen in ihrer Bedeutung für die Jagd zu kennen. Diese Grundlagen, diese Grundwissenschaften, sind insbesondere die Wildkunde, also Zoologie, Biologie, Ökologie, auch Pathologie, und von anderen Naturwissenschaften, z. B. Botanik, Metereologie, Bodenkunde, Chemie, das, was für die Jagd Bedeutung hat. Von den Geisteswissenschaften sind die Rechtswissenschaften und die Geschichte sowie die Kulturwissenschaften zu nennen, soweit sie sich mit der Jagd und dem jagenden Menschen befassen. (...).
Zu den wirtschaftlichen muß man die Regulierung der Wildbestände und Revierverwaltung (samt Revierbildung) rechnen und zu den politischen zählt die Jagdpolitik und die Jagd im Rahmen der Volkswirtschaft, auch die Statistik."

Kurt Lindner meint,
" ... Leider gibt es für ein Grundschema der Jagdwissenschaft wegen des ihr eigenen interdisziplinären Charakters keinen unbestreitbaren Ausgangspunkt. Es ist durchaus denkbar, das Ziel aus verschiedener Richtung anzugehen. Das heißt, daß mit dem hier gemachten Vorschlag keineswegs ein Anspruch auf Allgemeingültigkeit verbunden ist und weitere Vorschläge gemacht werden sollten. ..."

... und fast mit demselben Atemzug sollten, nein, müssen wir uns mit den unterschiedlichen Definitionen und Hypothesen beschäftigen, was denn Jagd sei:
Kurt Lindner:
„Jagd ist etwas spezifisch Menschliches. Sie ist zweckbewußte, in der Regel auf Tötung gerichtete Verfolgung einer Gruppe von als Wild bezeichneter Säugetiere und Vögel unter Verwendung zusätzlicher Mittel und unter Wahrung der Entkommenschancen des verfolgten Objektes.“

 
José Ortega y Gasset

Eine Auswahl aus der Fülle seiner konsistent begründeten Jagdhypothesen:

„Die Jagd ist nicht etwas, das zufällig über das Tier kommt, vielmehr ist schon im tiefen Schoß seiner Natur der Jäger vorgesehen,
Die Jagd ist freies Spiel der unterlegenen Gattung gegenüber der überlegenen.
Die Tötung des Tieres ist der natürliche Abschluß der Jagd und ihr Ziel: das der Jagd an sich, nicht das des Jägers.“

 
Günter R. Kühnle

Jagdhypothese
„Jagd ist eine Vitalkategorie, eine genetisch im Organismus angelegte Verhaltensdisposition. Im Sinne von Konrad Lorenz (EE) ist sie ontogenetisch, also für das Individuum, ein phylogenetisches Aposteriori.
Es gibt keine für alle Menschen einheitlichen zentralen Jagdmotive.
Die Jagd ist ein multimotivationaler und multifaktorieller Komplex mit multifunktionaler Wirkung, der in der Regel leidenschaftliches Handeln ziel- und zweckorientierter Struktur auslöst und das Leben von Wildtieren zum Inhalte hat.
Jagd ist darüber hinaus und allgemein das leidenschaftliche, allem Streben vor und im Handeln zugrunde liegende bewegende Prinzip; sie ist das Bedingungs- und Wirkungsgefüge zwischen Gedanke und vollendetem Akt“.

Diese Jagddefiniton bzw. Jagdhypothese von Kühnle finden wir inzwischen gewissermaßen als Allgemeingut in den wiss. Zeitschriften und Publikationen der pädagogischen Fakultäten in Deutschland und solchen der Anthropologie und Evolutionsforschung.

In Rahmen der mehrjährigen Erarbeitung einer Dissertation an der Universität Trier wurde von dem Doktoranden zwei „Jagdwissenschaftern“ ein Fragenkatalog vorgelegt, den beide schriftlich beantworteten.

Der eine war Alexander Herzog, Professor für veterinärmedizinische Genetik und Zytogenetik an der Justus-Liebig-Universität Gießen, Mitglied des "Arbeitskreises für Wildbiologie" an derselben Universität.
Der zweite, Professor Michael Stubbe, lehrt und forscht am Institut für Zoologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und leitet die "Gesellschaft für Wildtier- und Jagdforschung" an der selben Universität.

Folgende Fragen hatten beide Wissenschaftler zu beantworten:

1.




2.









3.

4.




5.






6.

Der ehemalige Jagdhistoriker Kurt Lindner, Göttingen, schuf einen durch Setzung arbiträr
hergestellten Jagdbegriff, dessen Kernaussage lautet: Die Jagd ist eine spezifisch menschliche
Tätigkeit. Jagd im nicht kulturellen Raum, also Jagd in der Natur, wird von Lindner negiert.
Stimmen Sie Lindner zu, Jagd sei ein menschliches Spezifikum?

Ein Paradigma (nach Thomas Kuhn) ist ein allgemeiner und allgemeingültiger Begriff einer
wissenschaftlich relevanten Sache, auf die sich zum intersubjektiven Verständnis die
Wissenschaftergemeinde entweder disziplinbezogen oder multidisziplinär verständigt hat.
Heute ist der Gegenstand bei jeder Wissenschaft, also das Forschungsobjekt, für alle
Diskursteilnehmer dieser Wissenschaft (bzw. darüber hinaus) konsensuell als Paradigma
vorhanden (um eine Einheit im Verstehen zu sichern):
a) Existiert für die Jagdwissenschaft ein Paradigma Jagd?
b) Bejahendenfalls: Bitte kennzeichnen Sie die Parameter (Designate) und Konnotationen
dieses wissenschaftlichen Jagdbegriffes.

Insofern Sie Jagdwissenschaft betreiben: Betrachten Sie sich als Naturforscher?

Was halten Sie von der Auffassung zur Jagd, die ein Evolutionsbiologe in Anlehnung an
lose Ortega y Gasset aufgestellt hat: Die Jagd -allgemein -ist ein natürliches Phänomen, eine
Vitalkategorie, und als solche ist sie ein Aktivitätspotential von Lebewesen, das auf
Ressourcensicherung (Erlangung) und damit auf Selbst- und Arterhaltung gerichtet ist?

Ganz unabhängig davon, ob Sie Kurt Lindners Jagdbegriff als ein "spezifisch Menschliches"
zustimmen oder diese Sichtweise ablehnen - was halten Sie von folgendem Satz des späten
Lindner (zitiert nach Dietrich Stahl: Wild – Lebendige Umwelt, Alber 1979): "Wir brauchen
mehr Wissenschaft vom Jäger und weniger vom Wild. Nur sie kann uns die Wege weisen, die
zu einer überzeugenden Rechtfertigung der Jagd in einer modernen Industriegesellschaft
führen können?"

Zu Beginn der ersten systematischen Rede von Jagdwissenschaft hat Prof. F. Nüßlein,
Göttingen, die Jagd in
- Jagdwissenschaft und
- Jagdkunde
aufgeteilt. Nach seiner Ansicht hat Jagdwissenschaft nur ihren Fokus im Bereich der
Wildbestände, und sie ist damit eine Naturwissenschaft. Als Jagdkunde hat sie mit nahezu
allem zu tun, was sozusagen menschenmöglich ist, und so ist sie ein Eintopf multipler
Disziplinen.


Ich war mit ... Dr. Erhard Ueckermann kurz vor seinem Tod in einem Tiefengespräch zu folgendem Ergebnis gekommen:
I. Es macht nur Sinn, Jagd in einer dichotomischen Form zu betrachten, wenn die Aufteilung phänomenbezogen die wahrnehmbaren, also die empirischen Aspekte bedenkt.
II. Unter Voraussetzung von I. gilt dann:
Jagd hat eine formale, d. h. eine strukturelle, und sie hat eine funktionale Seite. Funktional ist alles, was mit Jagdpraxis zu tun hat, ob bei Tier oder Mensch. Im kulturellen Bereich ist es Jagd als Handwerk (Jagdpraxis) und alles, was sich damit beschäftigt, von der Wildbiologie, Theorie des Fallenbaus, Ballistik, Wildbrethygiene, Ethologie, Jagdrecht. Es sind also all jene Dinge, die das Objekt des Jagens im Vordergrund sehen.
Strukturell (formal) ist alles, was das Subjekt der Jagd betrifft. Die Emotionalität (Leidenschaft, Jagdfieber, der im Vollzug des Tötens erlebte Kick, usf.), die Jagdmotivation, die Jagd -Intentionalität des Jägers, sei er Tier oder handele es sich um das Mensch genannte Tier.
Strukturell ist auch die Frage nach dem Jagdschema als natürlichem Schema im Sinne von Konrad Lorenz (selektiver Beuteinstinkt) und der Übergang zum allgemeinen Denk- und Handlungsschema jenseits von Wildtierjagd (im kulturellen Bereich, also im Falle des vernunftbegabten Jägers). Und schließlich strukturell ist auch die Frage der Jagdmoral (bzw. Ethik).
Soweit der von mir und Ueckermann gemeinsam hergestellte Konsens, den man zweifellos auch als einen Ansatz zu einem Jagdparadigma bewerten kann;
Ihre Meinung dazu?

Alexander Herzog lehnt den Lindnerschen Jagdbegrif ab. Er verneint, daß es einen einheitlichen Jagdbegriff im Sinne eines Paradigmas überhaupt gibt. In Konsequenz dessen meint Herzog, er betreibe nicht Jagdwissenschaft.
Zustimmend erklärt er zur Sichtweise von Jose Ortega y Gasset, insoweit die Jagd als ein natürliches Phänomen, als Vitalkategorie und als Aktivitätspotential von Lebewesen, das auf Ressourcensicherung, auf Selbst- und Arterhaltung gerichtet ist, in der Sicht steht. Die Position von Lindner, "Wir brauchen mehr Wissenschaft vom Jäger ..." lehnt Herzog ab.
Michael Stubbe lehnt den Lindnerschen Jagdbegriff ebenfalls ab. Die Frage nach dem Jagdbegriff als wissenschaftliches Paradigma wird kommentiert.

"Jagdwissenschaft bezieht die Erforschung der Wildtierökologie auf breiter Basis ein, nicht nur jagdbare, sondern auch geschützte Arten (aus welchen Gründen auch immer).
Jagdwissenschaft wird nicht nur an heute jagenden Arten betrieben. Für mich bildet Jagdwissenschaft keine zwangsläufige Assoziation zur Jagd oder Bewirtschaftung.
Management muß wissenschaftliche Erkenntnisse zur Erhaltung der Art voll berücksichtigen, Jagd bedeutet in diesem Sinne Abschöpfung von Naturressourcen ohne Gefährdung der Art. Jagd muß immer eine Art erhalten, da sie sonst mit dem Aussterben erlischt. Jagd ist der Dialog von Nutzung und langfristig gerichteter Reproduktion."

Michael Stubbe betrachtet sich in der Eigenschaft als Jagdwissenschafter als ein Naturforscher. Zu den von Nüßlein (1955) dargebotenen Sichtweisen meint Stubbe, eine "Trennung in Jagdwissenschaft und Jagdkunde ist ganz subjektiv und fraglich. ...
Jagdwissenschaft und Jagdkunde sind inhaltlich nicht sinnvoll zu trennen." Demzufolge ergibt sich eine unbedingte Übereinstimmung beider Wissenschafter durch Hervorhebung ihrer Zustimmung zur Position Jose Ortega y Gassets in der Bewertung der vitalkategorialen Eigenschaft der Jagd als ein natürliches Phänomen, das als Aktivitätspotential des Lebewesens mit Richtungssinn auf Ressourcensicherung in Erscheinung tritt.
Wenn demgemäß von dieser Grundposition ausgegangen werden kann, bedarf es nur eines innovativen Impulses, um Jagd ganzheitlich in den Rang eines Objektes strenger Wissenschaft zu bringen.
Fazit: Jagd als Gegenstand von Wissenschaft schließt die Natur der Tiere ebenso mit ein wie die Natur des Menschen und schließlich jene Natur, die wir in der Regel als Umgebungsnatur (Umwelt) bezeichnen.

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