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Dieter Stahmann
McKinsey und die Hirsche vom Großen Waldoder Mechanistisches Denken in der Natur
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Redaktioneller Hinweis: Der Verfasser greift in seinen Überlegungen z. B. zur Kausalität weit zurück in die Philosophiegeschichte, bemüht auch das Denken von Immanuel Kant und konfrontiert so den Leser mit der Notwendigkeit eines speziellen Vorauswissens, um die relevanten Textpassagen überhaupt begreifen zu können. In der Absicht, den Text für den allgemeinen Jäger aufnahmefähig zu machen wurden die ihn intellektuell überfordernden Passagen redaktionell herausgenommen. In gleicher Weise wurde dort verfahren, wo sich der Verfasser auf spezielles Fachwissen einlässt und mit Genetik und Evolutionstheorien befasst, um seine Position zu begründen.
Aus dem Aspekt pragmatischer und jagdkultureller Denk- Vernetzung sind die gelöschten Textpassagen allerdings für den gebildeten Leser eine Horizont erweiternde Bereicherung. Er findet deshalb den ungekürzten Text im Archiv der Website des FLJ.
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Das Rotwild des Großen Waldes war seit langem schon unzufrieden mit der Entwicklung seines Images. Statt als König des Waldes verehrt zu werden, kamen dem alten Sechzehnender so Schimpfworte wie „Baumrindenschäler“ oder „Naturverjüngungskiller“ und noch Schlimmeres zu Ohren. Mit „weiter so“ konnte es nicht weitergehen. Es musste etwas geschehen, und also wurde eine Kommission mit dem Namen „Hirsch I“ einberufen, die wirksame Maßnahmen erarbeiten sollte. Sehr schnell war klar, dass man ohne äußere Hilfe nicht auskommen würde, und so wurde beschlossen, der renommierten und zu allem fähigen Consultant-Firma McKinsey einen Beratungsauftrag zu erteilen.
Nachdem die Honorarfragen, Spesen und Reisekosten geklärt waren, begann McKinsey wie immer mit seinen Archivstudien. Es kam zu einem ersten Vortrag, bei dem natürlich nur Hirsche ab zehntem Kopf zugelassen waren, und McKinsey legte die ersten Erkenntnisse vor.
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Das Geweihgewicht des Rothirsches beträgt in Relation zum Körpergewicht etwa 5 bis 6 %, während es beim Rehbock nur etwa 2 % sind.
Es wurde festgestellt, dass das Körpergewicht der artgleichen Rothirsche der schottischen Highlands etwa 60 bis 70 KG beträgt gegenüber 100 KG und mehr der deutschen Hirsche, die Geweihgewichte lagen bei 3 – 4 KG gegenüber 5 bis 8 KG und mehr bei deutschen Hirschen. Ähnliche Ergebnisse gibt es von einem Rotwildbestand bei Wesel, der leider inzwischen historisch ist, da er durch das Aussetzen von Romintener Hirschen kaputtgemendelt wurde.
Generell gesehen ist das jährliche Abwerfen und Neuschieben des Geweihs eine rational nicht vertretbare Verschwendung von Biomasse.
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Dem alten Sechzehnender wurde schwach im Pansen, aber fragte schließlich doch nach den Konsequenzen. Dazu brauche man noch längere Studien, aber man würde in drei Monaten ein Verbesserungskonzept vorlegen. Die Honorare würden im übrigen monatlich abgerechnet.
Die Versammlung der älteren Hirsche trottete gedankenschwer heimwärts, wobei der alte Sechzehnender mit seinem Geweih mehrfach an dicke Äste anbumste, was er bisher immer noch als Altersanzeichen vermieden hatte. Oh, oh dachte er, was hast Du da angerichtet!
Der Vortrag von McKinsey über „Hirsch I“ erfolgte pünktlich noch vor der Brunft. Die Ergebnisse waren deutlich:
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Sämtliche Waldschäden können vermieden werden, wenn das Körpergewicht des Rotwilds durch strenge Diät und Outsourcing von übergewichtigen Hirschen auf durchschnittlich 60 bis 70 KG wie in Schottland herabgesetzt und dadurch die jährlich erzeugte Biomasse des Waldes nicht übernutzt würde. Dabei sollte gleichzeitig das Geweihgewicht auf die Relation des Rehwilds reduziert und in einem Gewichtsrahmen von 1 bis 1,2 KG gehalten werden.
Ein permanentes Monitoring ist über fünf Jahre erforderlich und kann von McKinsey bereitgestellt werden, Konditionen unverändert mit Inflationszuschlag in jedem Jahr.
Langfristig sollte eine Umstellung vom Geweih- auf das Hornprinzip etwa wie beim Gamswild angestrebt werden, da das jährliche Abwerfen und Neuschieben des Geweihs absolut unrationell ist und das Hörnerwachstum jährlich nur ein Minimum des Geweihwachstums ausmacht.
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Der alte Sechzehnender konnte mit Mühe einen vorzeitigen Ausbruch der Brunftkämpfe in der Kommission verhindern, verlangte heroisch, den Gürtel enger zu schnallen und brachte schließlich die Kommission zur Zustimmung wenigstens der kurzfristigen Maßnahmen. So änderte sich alles im Großen Wald. Schälschäden traten im ersten Jahr nicht mehr auf und die Verjüngungsflächen ohne Gatter sahen genau so aus wie die Probeflächen mit Gatter.
Im dritten Jahr kam es zum Krach mit McKinsey, die einen bösen Abschlußbericht verfassten:
„Das Rotwild im Großen Wald gibt sich nach wie vor rein natürlichen Trieben hin und hat kein Verständnis für rationelle Unternehmensführung. Schon im ersten Jahr, als sich alle anderen noch an die Diätvorschriften hielten, versteckte sich ein zehnjähriger Hirsch im Hinterbruch und trat zur Brunft mit einem 5 KG Geweih an. Er gewann alle Rudel und beschlug alle Tiere, die er wollte, aber er war nach der Brunft so erschöpft, dass der alte Sechzehnender, der sich vorschriftsmäßig auf einen rehbockartigen Sechser reduziert hatte, ihn nach der Brunft mühelos forkeln konnte. Im zweiten Jahr gab es schon drei Junghirsche mit mehr als 6 KG Geweihgewicht, die das Brunftgeschehen beherrschten, und der ehemalige Sechzehnender beging Selbstmord, indem er pausenlos an der Jagdgrenze rauf- und runterlief. Im dritten Jahr war schon wieder alles wie vorher. Wir geben hiermit unseren Auftrag zurück.“ Zu „Hirsch II“ oder gar „Hirsch IV“ kam es nicht mehr.
Wo lag das Problem?
Der erste grundsätzliche Fehler war die Anwendung mechanisch-mathematischer Denkmethoden und einfacher Kausalität auf die lebendige Natur.
Die Anwendung des mechanischen oder kausalen Denkens auf die lebendige Natur ist jedoch problematisch. Wenn wir die Entwicklung unserer Fauna und Flora aus der Sicht der Kausalität betrachten, so erscheint uns vieles in der Natur als sinnlos, unverständlich oder als Zufall, was darauf hin deutet, dass der mechanische Denkansatz hier nicht passt. Kant, der ein Bewunderer Newtons war, stellte bereits klar, dass die Erzeugung materieller Dinge nach bloß mechanischen Gesetzen nur dann möglich ist, wenn die Endursache der Dinge bekannt ist. Im Gegensatz zu Physik und Chemie war aber zu Kants Zeiten für die lebendige Natur keine Endursache erkennbar, und das Wirken Gottes oder eines anderen höheren Prinzips verwies er in den Bereich der Theologie.
Seit Charles Darwin kennen wir nun die Evolutionstheorie, die mit dem Prinzip der Erhaltung der Art eine offensichtlich wirksame Endursache in der lebendigen Natur liefert und mit der Selektionstheorie auch die Methode, wie die Natur mit diesem Prinzip arbeitet.
Eigentlich ist diese Weisheit schon 2500 Jahre alt, denn Heraklit von Ephesus, der im 6. Jahrhundert vor Christi lebte, sprach bereits die berühmten Worte:
„Alles fließt“ und „Niemand steigt zweimal in den gleichen Fluß“, was nichts anderes bedeutet, als das die Natur sich immer bewegt. Leider sind die Vorsokratiker und damit eine guter Ansatz der Naturforschung von Platon und seinen Idee-Philosophen völlig verdrängt worden.
Doch jetzt zu McKinsey und den Ökologen. Wer die Evolutionstheorie anerkennt, was die meisten Ökologen ja tun, muß auch dynamisch-geschichtlich an die Natur herangehen und nicht mechanisch-statisch, und er muß zum Beispiel die Entwicklungsgeschichte eines Tieres, sein in langen Zeiträumen gewachsenes Verhalten oder die Umweltgeschichte in sein Denken einbeziehen, alles Faktoren, die nicht in Modelle eingehen können, aber mindestens genau so wichtig sind wie Zahlen und Formeln. Geweihe und Gehörne sind nicht einfach so da, sondern haben sich im Kampf ums Dasein als sinnvoll erwiesen – sonst gäbe es sie nicht. Wenn sie oder ihre Größe als unzweckmäßig erscheinen, dann liegt das am falschen Denkansatz und nicht an der Natur.
Inzwischen wissen wir ja auch durch die Kernphysik, dass die Gesetze der Newtonschen Mechanik auch nur ein Spezialfall für die menschlich direkt erfahrbare Welt sind und im sehr Kleinen und sehr Großen nicht gelten.
Der Schriftsteller Ernst Jünger, der selbst mehrere Semester Biologie studiert hatte und ein Experte auf dem Gebiet der Entomologie war, schrieb in seinem Buch „Subtile Jagden“:
„... Was bedeuten all diese Kurven und Tabellen gegenüber der Liebe, mit der ein Wallace das Spiel der Paradiesvögel in den Baumwipfeln der Urwälder Neuguineas oder ein Fabre Aufstieg und Untergang eines Scarabäus in der Provence belauscht? Das kann nicht durch Maschinen ersetzt werden. Da ist noch innere Teilnahme, etwas von dem großen Erstaunen „Das bist Du!“
Für den Misserfolg von McKinsey ist noch ein zweites Denkprinzip verantwortlich, das in den letzten zweihundert Jahren ebenfalls gewaltige Erfolge errungen hat und mit dem Kausalitätsprinzip eng zusammenhängt: Das wirtschaftliche Denken. Der kalte Stern der Knappheit, der seit ewigen Zeiten über der menschlichen Erde steht, und die bewusste Sorge um die Zukunft beherrschen das menschliche Denken seit Adam und Eva – seit wir das Paradies sprich die Natur verlassen haben.
Aus den Erkenntnissen der Evolutionstheorie und vor allem der Anthropologie wissen wir heute, dass Knappheit, Sparsamkeit und rationelles Handeln typisch menschliche Begriffe sind, die aus der Sorge entwickelt worden sind, die es nur beim Menschen gibt. Eine Anwendung auf die Natur führt nur zu Missverständnissen: Die Natur rechnet nicht! Das Wort vom Naturhaushalt (Thienemann 1956), das sich ja sogar in unserem Naturschutzgesetz findet, ist schlichter Anthropozentrismus, d. h. der Mensch überträgt seine Denkgewohnheiten auf die lebendige Natur. Wenn die Ökologie als die „Lehre vom Haushalt der Natur“ definiert wird, dann beginnt hier schon das Missverständnis, und wenn dann auch noch vom „Gleichgewicht der Natur“ die Rede ist, dann ist das schlicht ein Leugnen der Evolution. Unsere Natur ist nie im Gleichgewicht –
Ökologie ist eine interessante und erfolgreiche Wissenschaft, aber leider führt das Denken in mathematischen Modellen zu einem Systemglauben, durch den man die Natur schließlich in einem Computermodell wiederzufinden glaubt. Wahrscheinlich ist das sogar der Traum mancher Modellkonstrukteure, die damit dem populären Denken sehr entgegenkommen. Das Weltmodell des „Club of Rome“ war ja bereits ein derartiger Versuch, der sich allerdings sachlich als vollständig falsch herausstellte. Es wäre bedauerlich, wenn die Wissenschaft von der Umwelt, die ja entstanden ist, um die möglichen fatalen Folgen des technisch-rationalen Fortschrittsdenkens zu erkennen und zu bekämpfen, schließlich in ihrer Denkweise auf der gleichen geistigen Grundlage enden würde.
Märchen pflegen in der Regel einen pädagogischen Sinn zu haben, und viele unserer deutschen Märchen wie Rotkäppchen oder Hänsel und Gretel spielen im Wald, der symbolhaft die Natur vertritt, und sie zeigen, wie man sich dort verirren oder täuschen lassen kann. Auch das Märchen von den Hirschen im Großen Wald warnt uns davor, sich der Natur auf den falschen Wegen zu nähern. Das gilt für den Jäger in seiner praktischen Hegearbeit, die etwas anderes ist als landwirtschaftliche Tierzucht, das gilt für den Naturschutz, der sich nicht als Museumswächter von statischen Landschaftszuständen verstehen darf, und es gilt vor allem für den Menschen, der letztlich über das Erleben der Natur sich selbst finden will. Erst wenn es ihm gelingt, sich aus der Verstrickung in die menschlichen Denkgewohnheiten zu lösen, kann sich der Pfad öffnen, der auf das weite Feld der Naturerkenntnis führt und dem Menschen, der das Reich der menschlichen Zwecke hinter sich gelassen hat, die Sicht auf eine andere Erde ermöglicht.
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